Hand aufs Herz: Wir wollen es eigentlich nicht wahrhaben, wenn unsere betagten, sich selbst versorgenden Eltern an Contenance verlieren und auf einmal etwas verwirrt erscheinen. So ergeht es auch Tom, dem smarten und erfolgreichen Nachrichtenmoderator, als er nach der Abendsendung zu seiner 84-jährigen Mutter gerufen wird, die statt zu Hause in Bonn offenbar in Aschaffenburg in der Klinik ist.
Ungeduld mit der quasi nicht mehr funktionierenden Mutter und der daraus folgenden Verantwortung ist die eine Seite der Geschichte. Auf der anderen Seite lernt Tom Schicht für Schicht das frühere Leben seiner Mutter kennen, die aus Ostpreußen geflohen in Heidelberg gelandet ist und sich in der neuen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurechtfinden muss. Nie hat er je zuvor gehört, dass sie Kontakt zu Mitgliedern der Alliierten hatte und einem Afroamerikaner so nah gekommen ist, dass sie beide von einer gemeinsamen Zukunft geträumt hatten. Und dann soll da noch ein Kind gewesen sein?
Tom kennt nur den eigenen, längst verstorbenen Vater, das wohl geordnete Elternhaus und den wirtschaftswunderlichen Wohlstand, der ihm eine eigenständige Entwicklung und schließlich eine internationale Karriere ermöglicht hat.
Mehr will ich Ihnen hier nicht erzählen, zu vielschichtig und besonders habe ich die Geschichte empfunden und will Ihnen diese Erfahrung möglich lassen. Tatsächlich entfaltet sich in diesem Roman eine Seite deutschen Lebens nach dem Krieg, die nicht sehr populär ist und über die wenig gesprochen wurde. Das hat mich gefesselt und ich glaube, dass in unseren Familien, den Herzen unserer Eltern noch viele Geschichten liegen, die nur darauf warten, dass ihre Gehirne nicht mehr stark genug sind, um die Geschichten zu verbergen. Bei aller Trauer um die Veränderung unserer Eltern: Lassen Sie uns zuhören, wenn sie von sich erzählen.

Erschienen bei dtv

Sabine Janßen, Filialleiterin Thalia Buchhaus Campe Nürnberg